In der Stadt war es dringend nötig, etwas zu verändern

Rotraut Gille und die Stadtökologie

In den 1980er Jahren entsteht innerhalb der staatlich kontrollierten Gesellschaft für Natur und Umwelt (GNU) eine Sparte, die sich kritisch mit ökologischen Problemen im urbanen Raum beschäftigt: die Interessensgemeinschaft Stadtökologie. Unter dem Dach der GNU organisieren sich hier Menschen, deren Anliegen über den traditionellen Natur- und Artenschutz hinausreichen. Örtliche Gruppen wachsen schnell, ihr Anspruch, für konkrete Veränderungen der unmittelbaren Lebens- und Umweltsituation in den Städten zu sorgen, wird bald deutlich. Zunächst operieren sie eher isoliert. Aber sie suchen den Kontakt untereinander. Wie viele es sind, ist nicht ganz klar – 1987 belaufen sich die offiziellen Zahlen auf mindestens 380 Arbeitsgruppen mit mehreren tausend Mitgliedern. Eine Gruppe begrünt Schwedt, die Ärztin Rotraut Gille hat sie gegründet.

"Es war dringend nötig, etwas zu verändern"

Rotraut Gille stammt aus Ostpreußen und lebt nach 1945 mit ihrer Familie in Brandenburg. Als Kind läuft sie täglich vier Kilometer zur Zentralschule: "Ich sehe heute noch den blauen Himmel und den Lerchengesang und die Rebhühner in Massen. Und irgendwie, dieses Jahr mutterseelenallein – das hat mich total geprägt bis heute." Später studiert sie Medizin, wird Ärztin und organisiert den Blutspendedienst in Schwedt. Die Stadt ist seit 1958 vom Petrolchemischen Kombinat PCK, einer Raffinerie, die sowjetisches Erdöl verarbeitet, und einer Papierfabrik bestimmt. Sie wächst rasch, die neuen Plattenbauten prägen das Stadtbild. "In der Stadt war es dringend nötig, […] etwas zu verändern." Mit ihrem Mann Helmut Gille besucht sie die Fachgruppe Ornithologie des Kulturbundes: "Aber das war mir dann zu wenig und zu einseitig. Und da habe ich beschlossen, eine Fachgruppe Stadtökologie zu gründen."

Schwedt, Wohnungsbauten 1986. Weitere Informationen siehe Bildunterschrift

Grün für graue Fassaden

Zunächst will sie einfach mehr Natur in die Stadt bringen: "Wir wollten die trostlos grauen Fassaden begrünen, aber es gab keine Kletterpflanzen." Die Idee hat nicht nur Freunde. "Das war eigentlich auch ein Thema, waren erst mal alle erschrocken und warfen uns vor, wieso, ob wir die Neubauten nicht schön finden?" Da es an Pflanzen mangelt, richtet sie mit Gleichgesinnten eine Baumschule auf einer 8.000 Quadratmeter großen Fläche ein, um heimische Gehölze und Kletterpflanzen zu ziehen. Ein Mitstreiter pflanzt eine davon an seinen Wohnblock. Das Grün macht sich selbstständig. "Die war nachher so groß, dass er gefragt wurde, ob die Kletterpflanze erst da war und dann das Haus gebaut wurde." Vor Gilles Arbeitsstätte, dem Krankenhaus, legt die Gruppe eine Blumenwiese an, der den gemähten Rasen durch Wildwuchs ersetzt. Schon das kann als eine verdächtige Handlung verstanden werden: Die "SED-Kreisleitung kam ja immer zum Mittagessen ins Krankenhaus, und die haben das schon immer mit Argusaugen beäugt. Das passte ihnen nun gar nicht. Wir haben also heimische Wildpflanzen der Trockenrasengesellschaften dort angepflanzt. Und die hatte ich vorher in Töpfen angezogen." So findet die Idee der Gruppe "mehr Natur vor der Haustür" zu ermöglichen, schnell den Weg in die Stadtgesellschaft, das PCK spendet sogar große Summen für die Baumschule, die Gruppe darf Ausstellungen zu ökologischen Fragen in den Schaufenstern der Apotheke aufstellen. Das Interesse an der Initiative wächst, immer mehr Menschen machen mit. Ein Apotheker beobachtet die Aufmerksamkeit: "Der sagte: 'Manchmal ist es mir richtig unheimlich, wie die Leute stehenbleiben und gucken.'"

"Dich sperren sie noch mal ein"

Gille kann viele Initiativen anstoßen und umsetzen. Gleichzeitig sträubt sie sich innerlich gegen die "Generalaufsicht" aller Lebensbereiche: "Ich konnte mich immer nicht so recht anpassen, und deswegen habe ich andere Ideen gehabt." Westkontakte verschaffen den Gilles Zugang zu Fachliteratur: "Und das war ja für uns Goldstaub." Gille liest auch den sogenannten Brundtland-Bericht zur gemeinsamen Zukunft der Menschheit und stellt ihr Tun in einen größeren Umweltkontext. Später stellt sich heraus, dass Rotraut Gille in der Klinik von einem inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi bespitzelt wird. Sie spürt den wachsenden politischen Druck, unter dem selbst systemkonforme Naturschutzaktivitäten stehen können. Gille reist auch zur Umweltbibliothek nach Berlin: "Aber das wurde einem so irgendwie doch ein bisschen unheimlich. Also wir wurden beobachtet." 1989 besucht sie die von Matthias Platzeck und Carola Stabe mitgegründete Arbeitsgemeinschaft für Umweltschutz und Stadtgestaltung ARGUS in Potsdam, die die diversen Gruppen zusammenruft, um die Schlagkraft zu erhöhen: "Und das Schärfste war ja dann, als wir schriftlich Unterschriften für die Offenlegung der Umweltdaten gesammelt haben." Bei der Rückkehr "hat mein Mann zu mir gesagt: 'Dich sperren Sie noch mal ein.'"

In der Wendezeit entscheidet sie sich, die GNU zu verlassen, "weil wir doch nicht so die Freiheit hatten, uns unbegrenzt hier im Umweltschutz zu engagieren." Sie gründet mit Mitstreiterinnen und Mitstreitern eine NABU-Gruppe in Schwedt. Heute gibt es dank dieses Engagements mehrere Naturgärten, Schwalben- und Mauerseglertürme und große Wildbienenflächen – und Schwedt wird 2015 Kommune für biologische Vielfalt. Rotraut Gille fährt "die Ernte ein", bekommt diverse Auszeichnungen für ihre praktische Arbeit, und "hat, ach, noch so viel vor!"

Interview Rotraut Gille im Rahmen des NABU-Zeitzeuginnenprojektes, 9. September 2015

Interview mit Rotraut Gille am 22. August 2020.

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