Es ist mir sehr ernst

Protest gegen ein Kernkraftwerk in Stendal

Es ist das Versprechen einer neuen Ära 'sauberer' Energieversorgung jenseits der dreckigen Braunkohle: 1966 geht das erste Atomkraftwerk der DDR in Rheinsberg ans Netz, 1974 folgt ein weiteres bei Greifswald, und 1975 beginnen am Ufer der Elbe die Arbeiten für das gigantische Vorhaben Atomkraftwerk Stendal. Das Dorf Niedergörne wird dafür dem Erdboden gleichgemacht, tausende Menschen arbeiten auf der Baustelle. Vier Reaktorblöcke mit jeweils 1.000 Megawatt Leistung sollen hier in den nächsten Jahrzehnten entstehen. Kritik an der Energieform oder die Beschäftigung mit den Risiken sind lange kaum Thema in der DDR – auch nicht in Oppositionskreisen. Das ändert sich mit der Reaktorkatastrophe im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl im April 1986, die weite Teile Europas radioaktiv kontaminiert. Daten über das Ausmaß des Fall-outs sickern bald auch in der DDR durch. Die tiefe Verunsicherung durch die Katastrophe führt zu einer zunehmend kritischen Auseinandersetzung in Friedens- und Umweltgruppen. Einzelne beginnen, auch öffentlich nachzufragen, Stellung zu beziehen und sich zu organisieren. Eine von ihnen ist die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Erika Drees, die an einer Poliklinik arbeitet.

"Es ist mir sehr ernst!"

Erika Drees (1935-2009), schon seit ihrer Jugend in der evangelischen Kirche aktiv, hat sich im Laufe der 1970er Jahre zunehmend in der kirchlichen Friedensbewegung engagiert. Von zentraler Bedeutung für die oppositionelle Arbeit Drees' ist der Widerstand gegen Militarisierung, Wettrüsten und Atomenergie. Denn quasi vor ihren Augen entsteht das Kernkraftwerk KKW III Stendal. Zunächst will sie die Problemlage verstehen, um dann konkrete Zeichen zu setzen. Vom atomkritischen Ost-Berliner Physiker Sebastian Pflugbeil erhält sie Informationen zu Risiken und Gefahren der Technik, Freundinnen und Freunde aus der BRD versorgen sie mit Literatur.

Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erweitert sie ihr Aktionsfeld. Erika Drees entwickelte sich, zusammen mit Ingrid und Malte Fröhlich, zu einer treibenden Kraft für den Widerstand gegen das Atomkraftwerk vor Ort. Ihre Gruppe Energiewende lädt zu Infoveranstaltungen und Diskussionen in der Domgemeinde Stendal ein. Im Oktober 1986 bringt Drees persönlich eine Eingabe nach Berlin, gerichtet an Erich Honecker. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie diesen von 30 Menschen unterschriebenen Text verfasst, um Informationen "über die wirklichen Gefahren und Komplikationen der Kernkraftwerke" zu bekommen und über Alternativen aufzuklären. Ob der Bau noch zu stoppen sei? Erika Drees geht noch weiter. Sie spricht lokale Amtsträger direkt auf die Risiken an, reiht sich auf 1. Mai Demonstrationen mit eigenen Protestplakaten ein und organisiert Spaziergänge am Rande der streng gesicherten KKW-Baustelle – stets überwacht von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit.

DDR - KKW-Bau in Stendal

Operativer Vorgang, Operative Personenkontrolle und Zersetzung

Bei einem Operativen Vorgang (OV) gingen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatssicherheit Anhaltspunkten nach, die aus Sicht ihrer Behörde auf einen strafrechtlich relevanten Tatbestand hinwiesen. Dem Operativen Vorgang ging meist eine Operative Personenkontrolle (OPK) voraus. Die OPK diente zur Überprüfung von Personen und zur Informationsbeschaffung. Sie sollte Hinweisen zu Straftaten und Verdachtsmomenten nachgehen und so genannte "feindlich-negative Haltungen" frühzeitig ausmachen und unterbinden. Dies konnte auch Personen treffen, die für Umweltverschmutzungen verantwortlich waren, die zu Protesten geführt hatten. Der OV ermöglichte es, geheimpolizeilich gegen Personen oder Gruppen vorzugehen. Bei den Ermittlungen gegen Personen wurden auch Erkundigungen im privaten und beruflichen Umfeld eingeholt. Zu den ergriffenen Maßnahmen gehörte in extremen Fällen auch die Zersetzung, bei der Personen gezielt beruflich und privat diskreditiert wurden oder Gruppen durch Förderung von Rivalitäten geschwächt werden sollten. Im Bereich der Umweltbewegung blieb dies allerdings eher die Ausnahme.

Ihre Wohnung und ihr Telefon werden abgehört, sie ist Ziel mehrerer 'operativer' Maßnahmen. Am 26. April 1988, dem zweiten Jahrestag von Tschernobyl, verteilt die Gruppe um Drees auf dem KKW-eigenen Bahnhof Protestpostkarten an die Arbeiter der Großbaustelle. Die klare Forderung: Der Stopp des Baus. Erika Drees kennt die Risiken, die sie eingeht. In einem Brief schreibt sie: "Es ist mir sehr ernst und um der Sache willen notwendig." Die Volkspolizei verhaftet sie vorübergehend und vernichtet die Karten. Der Druck auf Erika Drees wächst, ihr Fall beschäftigt Behörden, Stasi und Arbeitgeber. Drees kontert mit Argumenten und Intellekt, verwickelt Gegner in Gespräche und hält unbeirrt an Widerstand, Kritik und Aktion fest. Ihre Biografin Edda Ahrberg beschreibt die damalige Situation: "Die Bemühungen aller ihrer Gegenspieler laufen jedoch mehr oder weniger ins Leere. Erika Drees ist nicht so leicht aufzuhalten, wenn ihr eine Sache am Herzen liegt." Ihre Widerstandskraft und ihr ausgeprägter Veränderungswillen machen sie im August 1989 zu einer der Initiatorinnen des Neuen Forums. Die Praxis des zivilen Ungehorsams wird sie später auch im wiedervereinigten Deutschland konsequent anwenden.

In der Umbruchzeit kommen die geheimen Daten zu Unfällen und Sicherheitsmängeln der bestehenden Atomkraftwerke ans Licht. Die Anlagen werden im Zuge der Wiedervereinigung endgültig stillgelegt, die Bauarbeiten in Stendal schließlich gestoppt und die Kühltürme 1999 gesprengt. Der endgültige gesamtdeutsche Ausstieg aus der Technologie erfolgt erst 2022.

Zitate Drees' entnommen aus Edda Ahrberg: Erika Drees (2011), S. 105, 137; Zitat Ahrberg, S. 141.

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Stand: 06.12.2021