Das war spektakulär

Eine Mark für Espenhain

"Bei der Braunkohleschwelerei Espenhain konnten Sie bei entsprechender Inversionswetterlage plötzlich in eine Mauer aus schwarzer Luft fahren", erinnert sich die Umweltakteurin Gisela Kallenbach. Dann weisen Fackeln Autofahrerinnen und Autofahrern den Weg.

Das zwischen 1936 und 1942 südlich von Leipzig erbaute Werk ist Ende des Zweiten Weltkrieges zu 70 Prozent zerstört. Doch schon 1945 geht es wieder in Betrieb. Die vom ihm ausgehende Umweltverschmutzung wird in der frühen DDR als Erbe des Faschismus abgetan, das bald überwunden sein wird. 1965 beschließt die Regierung, auf Petrochemie zu setzen und den VEB Braunkohleveredelung Espenhain zehn Jahre später stillzulegen. Bis dahin soll auf Verschleiß gefahren werden. Doch angesichts der Ölkrise hebt Generalsekretär Honecker den Stilllegungsbeschluss 1972 auf. Anfang der 1980er Jahre überschreiten die Emissionen die zulässigen Grenzwerte um das Tausendfache, Hunderttausende Menschen sind davon betroffen. Im ein Kilometer entfernten Mölbis verlieren die Bäume im Mai ihre Blätter.

"Man muss gegen diese Umweltzerstörung als Christ angehen"

1981 treffen sich im unweit von Espenhain gelegenen Rötha Menschen konfessionsübergeifend im Pfarrhaus zum "Ökumenischen Kaffeeklatsch", wie sie es später bezeichnen. Unter ihnen ist auch die Chemikerin Christiane Hanisch, die im Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg an der Veröffentlichung Die Erde ist zu retten mitgearbeitet hat. Die Gruppe um Pfarrer Walter Christian Steinbach beginnt, sich mit Umweltthemen auseinanderzusetzen. Das Christliche Umweltseminar Rötha, CUR, ist geboren. Die Umweltakteurinnen und Umweltakteure starten Baumpflanzungen und sammeln Informationen – auch zu den Auswirkungen des Werkes in Espenhain. 1983 gestalten sie in Mölbis den ersten einer Reihe von Umweltgottesdiensten. Die Gottesdienste stehen alle unter dem Motto "Unsere Zukunft hat schon begonnen" und werden begleitet von einem Markt der Möglichkeiten, Informationstafeln und Wallfahrten mit Blick auf das Werk. 

Wallfahrt anlässlich des Umweltgottesdienstes in Deutzen 1988

Immer wieder schreiben die Umweltakteurinnen und Umweltakteure Eingaben. Doch diese erscheinen ihnen zunehmend zwecklos. Die in Eingabegesprächen zugesagten Veränderungen erweisen sich als "heiße Luft". Als sie 1988 von offizieller Seite hören, mehr könne man nicht tun, macht sich fast Resignation breit. Doch bei einem Umweltgottesdienst in Deutzen im Juni 1988 kommt dann die zündende Idee: Gemeinsam mit dem Ökologischen Arbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke starten Walter Christian Steinbach und das Christliche Umweltseminar Rötha die Aktion Eine Mark für Espenheim.

"Es ist keine Unterschriftensammlung, es ist nur eine Quittungsunterschrift"

Die Aktion ist ein genialer Schachzug. Denn Unterschriftenaktionen sind in der DDR nicht erlaubt. Doch die Akteurinnen und Akteure bitten um Geld für die Sanierung des Werkes. Mit einer Mark als Einsatz ist die Spende ein eher symbolischer Akt, der Zweck zudem konstruktiv. Jede einzelne Spende aber wird akribisch dokumentiert mit der Unterschrift der Spenderinnen und Spender, die damit offen bezeugen, dass sie die Umweltverschmutzung nicht länger hinnehmen. Gemeinsam mit Umweltgruppen in der ganzen DDR sammeln Akteurinnen und Akteure innerhalb eines guten Jahres rund 100.000 Mark – und genauso viele Unterschriften. Es ist die größte illegale Unterschriftenaktion der DDR.

Eine Mark für Espenheim: Eine Mark auf einem Zettel geklebt mit Unterschrift. Weitere Informationen siehe Bildunterschrift

Eine der vielen Spenden mit Unterschrift

"Wir waren wissenschaftlich gut aufgestellt"

Begleitet wird die Aktion von einer Dia-Reihe und einer Broschüre. Die Akteurinnen und Akteure aktualisieren und erweitern das Material stetig. Informationen dazu kommen von Ingenieurinnen und Ingenieuren und Ärztinnen und Ärzten aus den eigenen Reihen und aus ihren DDR-weiten Netzwerken. Unterstützung erhalten sie auch in praktischer Hinsicht. Büromaterial und Abzugsmaschinen stellt die Nachbargemeinde zur Verfügung. Damit die Dia-Reihe an vielen Orten gleichzeitig gezeigt werden kann, vervielfältigt ein Fotografiemeister aus Hohburg sie "unter der drohenden Gefahr des Verlustes seiner Handwerkerzulassung." Mitglieder von Umweltgruppen in der gesamten DDR setzen sie ein, und sie findet ihr Publikum sogar über die Grenzen hinweg in Polen, Tschechien und der BRD. 

Auch wenn sie es damals nicht wissen, so Walter Christan Steinbach, gibt es "bei den Unternehmen durchaus große, wichtige Freunde, die die Hände über uns hielten". Und manchmal, wenn er mit Besucherinnen und Besuchern von Halde Trages auf Espenhain blicken will, steht das "Tor plötzlich offen, das sonst immer verschlossen war. […] Wir konnten dann ungehindert hoch". Dennoch: Ungefährlich ist das Engagement nicht. Anfang Oktober 1989 erhält Walter Christian Steinbach Hinweise, er stehe auf einer Internierungsliste. Er bringt Unterlagen in der Nachbargemeinde in Sicherheit, vernichtet auch manche. Die Ereignisse am 9. Oktober 1989, dem Tag der großen Leipziger Montagsdemonstration, aber ändern alles.

Statt in die Sanierung des Werkes fließen die Gelder später in die Zukunftsstiftung Südraum Leipzig. Der Plan, das Geld im Juni 1989, ein Jahr nach dem Start der Sammlung, dem Betrieb zu übergeben, lässt sich nicht umsetzten. Der Direktor teilt Walter Christian Steinbach durch seinen Umweltbeauftragten indirekt mit, dass er das Geld "gar nicht in Empfang nehmen darf". Wenig später beginnt die Zeit des Umbruchs. In der neuen Wirtschaftsunion ist das Werk nicht konkurrenzfähig, 1990 wird es geschlossen, die Beschäftigten entlassen. Nachdem Bodenproben unbedenklich ausfallen, entscheidet sich die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohnern von Mölbis zu bleiben.

Eine Mark für Espenheim: Unterschriften. Weitere Informationen siehe Bildunterschrift

Eine der vielen Spendenlisten, die bei der Aktion zusammenkommen sind.

Interview mit Walter Christian Steinbach am 23. Juli 2020.

Zitat Steinbach entnommen: Steinbach (2019): Eine Mark für Espenhain, S. 131.

Interview mit Gisela Kallenbach am 03. August 2020.

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Stand: 06.12.2021